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Merfyn

Sandrea


Wie versprochen kommen heute die Fragen, die ich mir schon die ganze Zeit über zurechtgelegt habe. Und beantworten wird sie mir keine geringere als jene Person, die man nur für flüchtig kennenlernt.

„Na, können wir jetzt?“

„Sehr gerne, Sandrea. Du bist einer der direktesten Engel, der mir je untergekommen ist. In dem Sinne fange ich einfach mal damit an dich zu fragen, warum Azrael derartig große Stücke auf dich hält?“

„Weshalb? Ich bin gut in meinem Job. Als Engel des Todes und noch dazu als eine der wenigen weiblichen besitze ich Fingerspitzengefühl. Mir ist klar, wie man mit einem Sterbenden umzugehen hat und dieses Wissen gebe ich gerne an andere weiter. Genau darum werden mir die Neulinge unterstellt.“

„So wie Viny einst, hmm?“

„Vincent war ein besonderer Fall. Wir kamen gut miteinander aus. Vielleicht lag es daran, dass er sich kein Blatt vor den Mund nahm und sich erhoffte, dass sein Leben später einen besseren Verlauf nehmen würde. Womöglich lag unser Auskommen auch darauf begründet, dass er meine Erfahrungen wirklich schätzte. Etwas das man nur selten erlebt.“

„Trotzdem war euer Auseinandergehen nicht gerade das Beste. Warum habt ihr nicht länger zusammengearbeitet, Sandrea?“

„Du kennst den Grund, Merfyn. Es war wie es war. Vincent hatte sich weiterentwickelt und mehr und mehr seinen eigenen Fähigkeiten vertraut. Darum ging es schließlich bei seiner Ausbildung. Natürlich hat es mich geschmerzt als er plötzlich alleine arbeiten wollte. Ich gebe zu, es lag nicht in meinen Interessen. Andererseits konnte ich ihn kaum zwingen, dass wir weiter miteinander die Sterbenden begleiteten.“

„Ach ja? Das ist deine Rechtfertigung? Es hatte nicht zufällig etwas mit einer Reise in den Süden zu schaffen und dem Umstand, dass du Viny unbedingt für dich haben wolltest?“

„Und? Ist das ein Verbrechen? Hast du ihn dir mal genauer angesehen? Er ist ein Engel, wie er nur alle tausend Jahre vorkommt. Vincent ist clever und weiß, wie er sich von einem Todgeweihten abschotten muss, um sein eigenes Leben nicht dabei aufs Spiel zu setzen. Mag sein, dass mir das abhandengekommen ist. Außerdem war unser Verhältnis bereits lange vor dieser Reise angespannt. Darum hat Azrael seiner Bitte letztlich auch zugestimmt. Mit dem Ende hätte ich jedoch nicht gerechnet.“

„Warum nicht? Du hast mich immerhin aufgesucht und darum gebeten, dass ich mich von der Gegend fernhalte. Wenn du den Braten nicht gerochen hast fresse ich auf der Stelle einen Besen.“

„Soll ich dir einen holen gehen, Merfyn?“

„Sehr witzig. Jetzt mal ehrlich, du warst doch eifersüchtig auf Evy, nicht wahr?“

„Warum? Ich wusste von Anbeginn an, dass sie sterben würde. Vincent hat das genauso gewusst und sich dennoch an etwas gewagt das er nicht kontrollieren konnte.“

„Mag sein. Kennst den Grund dafür besser als sonst einer, oder?“

„Ich weiß, was ich weiß und was mir zu Ohren kam. Nicht von Vincent selbst, aber dafür von Azrael. Mehr werde ich dazu nicht sagen. Wer eine Antwort darauf möchte wird sie im Buch finden. Sie ist sogar sehr offensichtlich, was mich bei einer Person wie Vincent doch erstaunt. Immerhin hätte ich ihn nicht für jemanden gehalten, der an Erinnerungen festhält.“

„Ich habe ein wenig auch in deiner Vergangenheit geschnüffelt. Allzu viel ist darüber ja leider nicht bekannt, was mich doch sehr erstaunt. Du scheinst – mal abgesehen von Azrael – der verschwiegenste Engel zu sein.“

„Ist das eine Frage?“

„Nein. Aber es führt mich geradewegs dazu. Warum erfährt der Leser nichts Genaues über dich?“

„Weil ich nicht im Fokus stand. Es ging um Evy und wie der Tod eines Menschen aussieht. Besser gesagt, was kommt vor dem Sterben. Was erwartet ihn? Womit muss er sich herumschlagen und wie sind die Gefühle, die dabei entstehen, zu deuten? Mein Hintergrund ist in diesem Sinne völlig gleich.“

„Aber wir werden ihn dennoch bruchstückhaft erfahren, oder?“

„Ich werde dies mit keiner Antwort würdigen. Allerdings kann ich dir versichern, dass sollten Auszüge auf diesem Blog vor der eigentlichen Entscheidung landen, ich dich heimsuchen, quälen und anschließend in den tiefsten Schlund der Hölle werfen werde. Haben wir uns verstanden?“

Mich überkommt gerade eine Gänsehaut bei Sandrea bissigem Lächeln. Es mag für den gewöhnlichen Menschen banal erscheinen, doch ich mache das Feuer in ihren Augen aus und weiß, dass sie die Wahrheit spricht. Aus diesem Grund werde ich die Fragestellung an diesem Punkt für beendet erklären. Erstaunlicherweise freue ich mich sogar auf den nächsten Gast, der mir bald gegenübersitzen wird. Im Vergleich zu Sandrea erscheint mir dieser verhältnismäßig normal. Bis dahin verbleibe ich euer zitternder Merfyn, der froh ist diesen Engel von seinem Tisch vertrieben zu haben.

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